„FRILUFTSLIV“ - WAS KINDER BRAUCHEN

„Friluftsliv“ ist eine norwegische Wortkomposition aus den Wörtern: Freiheit (frihet), Luft (luft) und Leben (liv) und bedeutet so viel wie: „Leben im Freien“. Es beschreibt einen Lebensstil, der mit der Natur in Verbindung steht. Obwohl Norwegen eines der modernsten Länder der Welt ist, verbringen die meisten Norweger dennoch ihre Freizeit am liebsten draußen vor der Tür. Sie sind naturverbunden, egal ob es ein kleines Picknick im Wald, eine lange Wanderung oder ein Nachmittag in der Hängematte ist – der Fokus ist stets die frische Luft. Es ist ein Begriff, der den Kern der norwegischen Kultur meiner Meinung nach am besten beschreibt. Es geht dabei um den Wert des Zeitvertreibs. Meist verweilt man mit der ganzen Familie an abgelegenen Orten in der Natur, um das geistige und körperliche in Einklang zu bringen. Und in der Tat, eines meiner aufregendsten Erlebnisse ist es, mit meinem Sohn Zeit in der Natur zu verbringen. Ihm die Wunder dieser prachtvollen Welt zu zeigen, erfüllt mich zutiefst. Mit meinem selbstständig gewordenen Fleisch und Blut wilde Orte zu betreten ist extrem befreiend. All die Sorgen, Probleme und Alltagsdramen lösen sich auf. Wir schwimmen in wilden Bächen, klettern auf Felsen, kochen über dem Lagerfeuer und zählen die Sterne am Firmament. Die Natur ist der Spielplatz. Ich erinnere mich an den letzten Sommer, als wir zu zweit tief im Wald im Zelt geschlafen haben und laut röhrende Elche hören konnten. Es war ein Konzert, das uns bis in den Schlaf begleitet hat. Während all meiner Abenteuer hatte ich nie so ein überwältigendes Glücksgefühl wie in jener Nacht. Oder als wir irgendwo im Nirgendwo auf einen hohen Berg geklettert waren und gemeinsam die Aussicht genossen. Dabei war nicht der atemberaubende Ausblick das Besondere, sondern vielmehr die kleinen Dinge drum herum, die sich da oben auf dem abgelegenen Gipfel abspielten. Er entdeckt die Welt und seine Entschlossenheit und die Freude auf ein Abenteuer zaubert ihm immer wieder ein Lächeln in sein Gesicht.

_1

DER NORWEGISCHE WEG

Kinder brauchen das „Friluftsliv“ mehr als alles andere in ihrem Leben. Sie müssen raus. Und damit meine ich nicht raus in den Zoo und Tiere durch den Zaun beobachten oder im städtischen Park spazieren gehen. Nein, ich meine raus in die echte Natur, die man anfassen, atmen und schmecken kann. Hier gehts zum Familienabenteuer in der Wildnis. Wer durch Wälder rennt und über Wurzeln und Äste springt, trainiert sein Gleichgewichtssinn. Kinder können in der Natur ihren eigenen Köper am besten kennenlernen und gleichzeitig wird gewährleistet das sie ihre ursprünglichen Instinkte voll entfalten können. Das Leben in der Natur ist eine Auszeit und eine willkommene Ablenkung im Zeitalter der digitalen Reizüberflutung. Ich sage: Kinder müssen sich im Dreck suhlen und barfuß den weichen Boden der Erde spüren. Sie müssen sich frei bewegen können und auch ohne elterliche Aufsicht ihre Grenzen ausloten. Du fragst dich: Wie soll das gehen? Die meisten Eltern finden den Gedanken beunruhigend, dass ihr Kind alleine an einem Bach oder auf Bäumen spielt. Durchaus berechtigt, aber die Entwicklung des eigenen Kindes ist auch eine persönliche Weiterentwicklung. Das kleine Lebewesen hat das Recht auf Solo-Abenteuer, denn nur so kann sich der Charakter, die Fein- und Grobmotorik und die Kreativität auch entwickeln. Den Tatendrang nicht unterbinden, sondern im Rahmen der jeweiligen Situation fördern und gewähren lassen. Am Ende ist es eine Win-win-Situation. Je mehr Vertrauern man in sein Kind legt, umso selbstbewusster und selbstständiger wird es. Im Gegenzug sind die Eltern meist gelassener, was zur allgemeinen Entspanntheit beiträgt. Übrigens ist diese Herangehensweise auch eine gängige Praxis in norwegischen Kindergärten. Kinder können sich im Bereich der imaginär abgesteckten Grenzen frei bewegen, ohne das ein Erzieher ständig ein Auge auf sie haben muss. Wenn man sein Kind im norwegischen Kindergarten abholen will, kommt es durchaus vor, dass es erst einmal im Wald gesucht werden muss. Ansagen wie: „Ihr Kind habe ich das letzte Mal vor vierzig Minuten gesehen, schauen wir mal wo es sich gerade rumtreibt“, sind keine Seltenheit. Das Vertrauen in die Kinder ist beispiellos. Eine Einstellung die sich durchaus mit meiner Vorstellung von Erziehung deckt. Oder wie Goethe sagen würde: „Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“

img_20201107_094316

DAS TRÄUMEN NICHT VERLIEREN

Raum zur Entfaltung bedeutet Wachstum. Genau das ist es, was all die Stunden in der Natur ein Kind lehren können. Seit ewigen Zeiten zieht die Natur Abenteurer und Träumer in ihren Bann. Unsere Kinder sind diese Träumer, die auf einer unaufhaltsamen Fantasiereise durch die Welt wandern. Die Natur ist der Ort, an dem sie ihre ungewöhnlichen Ideen Ausdruck verleihen können. „Wir gehen gemeinsam auf eine Expedition“, sage ich zu meinem Sohn, der im Zuge dessen mit voller Neugier in sein ganz eigenes Abenteuer aufbricht. Unberührte, wilde und naturbelassene Orte sind kostbar für uns. All die Abläufe von den kleinen komplexen Dingen und Strukturen, die unseren Planeten formen, ermöglichen unseren Kindern die Welt zu verstehen. Sie begreifen ihre Umwelt besser und ganz im Gegensatz zu den rationalen Lernzielen erfinden sie sich dabei jedes Mal neu. Indianer spielen, ein Iglu bauen oder am Lagerfeuer den märchenhaften Abenteuergeschichten von Papa lauschen. Die Kreativität und die unkonventionellen Denkansätze sind es, welche draußen in der Natur gefördert werden und nicht mehr verloren gehen. Toben ist wichtiger als Wissen. Das Wesen unserer Kinder darf nicht nach Schema-F ausgebildet werden. Unsere höchste Priorität sollte es sein, unsere Kinder auf die Vielfältigkeit dieses Lebens vorzubereiten. Was hier gilt, gilt vielleicht nicht dort. Nur wer über den Tellerrand schaut, kann auch auf sein ganzes geistliches Spektrum zurückgreifen. Kinder dürfen das Träumen nicht verlieren. Am besten nicht bis ins hohe Alter. Nirgendwo geht das besser als in der wunderbaren Natur. Mein Sohn und ich, wir haben uns in die Welt der Berge, Meere und Wälder verliebt. Er glaubt an die Magie der Natur und wenn es ihm wieder gelingt, in die vielfältige, farbenprächtige Welt aufzubrechen, dann weiß ich, das es gut für ihn ist und er dabei seine Fantasie und Lebenskraft fördert. Und genau das ist es, worum es beim „Leben im Freien“ der Kraft von „Friluftsliv“ geht. Schließlich sind es die Träumer, die die Welt verändern.

dsc09450
„Friluftsliv“ bei jedem Wetter.

KOMMENTARE

ÄHNLICHE BEITRÄGE

KOMMENTARE