ANGESCHOSSEN

Die Farbe Rot steht für Liebe, Feuer, Kraft und Leidenschaft. Der rote Außenhüllen-Farbstoff meines Zeltes ist ein auffälliger Fremdling in der wilden Landschaft. Umgeben von Stille und Einsamkeit, wirkt mein mobiles Zuhause wie ein unbekanntes Flugobjekt im Naturreich. Die Eigenschaften der Materialfarbe sind mit meinem Überlebenswillen verbunden. Sie geben mir Antrieb und Hoffnung in einem traurigen Moment. Ich fühle mich angeschossen. Ich atme, doch die Luft ist schwer. Fiktiv beobachte ich unseren Blauen Planeten aus der Vogelperspektive und sehe all die Menschen, die unsere wertvolle Oase zerstören. Ich frage mich, wieso diese Erde skrupellos und ohne Rücksicht ausgebeutet wird. Die Zerstörung von Luft, Wasser, Boden und Wald ist fast überall zu spüren. Betonwüsten, verschmutzte Meere, Atomenergie. Unsere Erde leidet chronisch an der Krankheit Mensch. Wir haben die Möglichkeiten, diesen Planeten zu einem freundlichen, sicheren und nachhaltigen Ort zu machen. Indessen herrscht Krieg, Missbrauch, Manipulation und Ausbeutung. Da fehlt mir buchstäblich der rote Faden.

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Das unbekannte Flugobjekt ist gelandet.

Vor mir entfaltet sich ein langer wilder Fluss. Die Schönheit fesselt mich. Meine Augen werden feucht, während ich intensiv in das Epizentrum der Wildnis blicke. Mobilfunkempfang? Fehlanzeige! Was für ein Luxus. Es ist kalt und vielerorts erkenne ich Schneefelder, aber das Eis beginnt zu tauen. Ich befinde mich auf achthundert Höhenmeter und die Temperaturen sinken nachts auf unter null Grad. Manchmal sitze ich einfach nur da und lausche dem monotonen Fließen des Wassers. Das sanfte Plätschern stimuliert meinen Körper und die Stille holt mich ein. In dieser Gegend ist die Zivilisation weit weg und hier können wir durch Besinnung lernen, unser Leben leichter zu gestalten. Weit entfernt von all den unfassbaren Tragödien dieser Erde, ist die Wildnis das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem wir unser Leben nicht nach den Regeln und den Gedankengängen anderer leben müssen. Hier geht es nicht um schneller, höher, weiter. Es geht um Tiefe.

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Der Bieber ist das einzige Lebewesen das den Wald rodet.

Ich gleite mit einem Rucksackboot auf der Strömung des Flusses in das Innerste der Abgeschiedenheit. Dort, wo die Farbe Rot nicht für Kampf, Zerstörung und Wut, sondern für die Hoffnung steht. Ganz dezent platziere ich jede Nacht mein rotes Zelt an den entlegensten Plätzen. Würde ich die Übernachtungsorte auf der Landkarte mit einem Bleistift verbinden, würden die verbundenen Linien ein Herz illustrieren. Das Herz der Wildnis, in dem ich mich gerade befinde, ist der Schöpfer aller Problemlösungen. Jeder Betrüger, Kinderschänder oder Kriegsverbrecher könnte hier zur Besinnung kommen. Frieden und Gerechtigkeit von der Arktis bis nach Feuerland, das ist es, wonach ich mich sehne. Der Wind der Wildnis ist der Wind unter meinen Flügeln und ich paddele flussabwärts.

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Ein besseres Morgen? Gar nicht so leicht zu realisieren. Was soll aus den Kindern werden, die eine gesunde und friedliche Welt verdient haben? Jeder Erdbürger hat das Recht, auf einem gewaltfreien und gleichgewichtigen Planeten zu leben. Neben all dem Handel und Wandel vielleicht mal eine Flugschneise für eine bessere Zukunft einbauen? Natürlich passiert das schon, aber leider nur vereinzelt und zu schleppend. Die Ära der Monopoly-Machtspieler muss zu Ende gehen. Der Kuchen ist groß genug. Es ist genug für alle da! Wir Menschen haben den Verstand und die Technologie, unseren Planeten zurück ins Gleichgewicht zu bugsieren. Die Gesundheitskrise der Vergangenheit hat gezeigt, dass Politiker nicht davor scheuen, große Geldbeträge in die Hand zu nehmen und wirkungsvolle Maßnahmen zu ergreifen. Beim Klima sehe ich diese Bereitschaft leider nicht. Wissen die denn nicht das auf langer Sicht im Laufe der Jahrzehnte ein noch viel größerer Schaden zu befürchten ist? Wo ist er wieder, der rote Faden?

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Mobilnetz nicht verfügbar! Weit entfernt von der Zivilisation ist solch ein Rucksack das einzige, was ein Mensch braucht.

Das Leben trägt mich wie der Fluss mein Boot. Ich schwebe fort, lehne mich zurück und beobachte die riesigen Bäume, die fest verankert auf dem uralten schroffen Gestein emporragen. Die Wurzeln reichen nicht tief in den Boden hinein. Vielleicht nur wenige Zentimeter. Wieso fallen die Bäume nicht um? Sie strecken ihre Fühler so weit aus, bis sie sich einander greifen und gemeinsam mit aller Kraft wachsen und gedeihen können. Es ist eine Vernetzung von unvorstellbarem Ausmaß. Die Gemeinschaftlichkeit der Bäume muss für uns Menschen ein Vorbild sein. Denn gemeinsam können wir weltweit Druck machen für Frieden, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Ich beobachte die Blätter, wie sie von den Bäumen fallen und mir fällt es schwer, mich zu erholen. Jede Wunde lässt sich mit ein paar Stichen nähen, aber unser Planet taumelt. Das Netzwerk der Menschen ist morsch und welk. Bei den Themen Völkerfreundschaft, Verständigung und der Empathie für unser Lebenselixier sind wir leider weiterhin sprachlos. Tatsächlich setzt sich das Gemeinschaftsgefühl bei uns erst durch, wenn wir die Welt in Flammen sehen.

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Hier geht es nicht um schneller, höher, weiter. Es geht um Tiefe.

Die Grausamkeit der Wahrheit ist unüberhörbar. Was für eine Not. Ich bin betrübt und lädiert von den Zuständen auf unserem Globus. Noch dreizehn Kilometer bis zu einer Lichtung, die ich auf der Karte ausgemacht habe. Diese verdammte Grausamkeit, sie schmerzt. Das wird ein harter Weg. Ich fange an zu singen: „I want to break free…“, der Song von Freddy Mercury saust durch meinen Kopf. Ist der Glaube an eine bessere Zukunft nur Utopie? Ich sehe rot, die Farbe der Hoffnung. Die Sonne wärmt. Hier ist nichts als Stille. Ich möchte meine Vorstellung von einer rosigen Zukunft nicht verlieren. In der Wildnis gibt es neue Perspektiven. Hier könnte ich Tage verweilen. Tage um Tage. Das ist pure Magie. Orte wie dieser lassen mich wirklich atmen. Das Affentheater der Menschen ist fern. Ich brauche den hohen Norden, die Taiga und Tundra, wo es fast keine Menschen gibt. Die giftigen Klauen der Menschheit sind die wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen, kulturellen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden. Still und unauffällig schaufeln wir unser eigenes Massengrab. Ich will nicht zurück ins Dinosaurier-Zeitalter, aber ich will die Wucht der negativen Einflussfaktoren schwächen, um uns und unseren Kindern eine intakte und stabile Heimat zu gewähren. Die Überreste der letzten Wildnisse verkörpern unsere Erde, wie sie einmal war. Ich will mehr davon! Können wir es gemeinsam schaffen, die schwer angeschossene Menschheit zu rehabilitieren, um uns und unseren Planeten wieder in ein Gleichgewicht zu manövrieren?

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