MOSCHUSOCHSEN

Dicke Flocken verstecken die unberührte Wildnis unter einer tiefen Schneeschicht. Wohin ich auch sehe, erblicke ich Weiß. Schneeflöckchen, Weißröckchen – der Winter strahlt. Ein starker Wind peitscht mir entgegen und der aufgewirbelte Schnee sticht mir wie tausend kleine Nadeln ins Gesicht. Ich suche Schutz hinter einem großen Felsen. Kalte arktische Böen fegen über das Land. Ich befinde mich auf einem Berghang im norwegischen Dovrefjell, im Winter, auf dem 62. Breitengrad. Begleitet werde ich von einem alten Expeditionsfreund. Weißer Ruß schimmert vor meinen Augen und meine Wimpern sind gefroren. Durch das Heulen des Windes verstehe ich mein eigenes Wort nicht mehr. Temperaturen jenseits der Wohlfühlgrenze. Zwischen Dunkelheit und Licht berührt die Sonne kaum den Himmel. Schlechte Sicht, White-out, keine Konturen, keine Kontraste, gefrorene Welt, so ungefähr muss es sich also anfühlen irgendwo am Nordpol, am Ende der Wildnis.

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DIE SUCHE

Ich bin auf der Suche nach einer der letzten Denkmäler der vergangenen Eiszeit. Irgendwo hier müssen sie leben, die Urzeit-Riesen der arktischen Tundra. Wir übernachten in Zelten, welche gut geschützt vor dem Wind in einer Senke stehen. Im tiefen Winter kann das Zeltaufbauen manchmal mehrere Stunden dauern. Mit großer Gewissheit muss jeder Hering einzeln vergraben werden, damit die Zelte auch den anspruchsvollsten Bedingungen standhalten können. Jederzeit kann das Wetter umschlagen. Das Basislager ist unser frostiges Wohnzimmer für die nächsten 72 Stunden, in dem es keine Heizung und keinen Ofen gibt. Auskühlen ist verboten und wir müssen permanent in Bewegung bleiben. Ich spähe hinter dem Felsen, der mich vor dem Wind schützt, hervor. Wollen wir wirklich weiter hinaufsteigen?

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Das weiße Inferno schlägt uns mit aller Kraft entgegen. Ich setze meine Skibrille auf und ziehe meine Sturmhaube ganz fest zu, um doch nachzusehen, was uns am Ende des Berghangs erwarten würde. Mit Hilfe meiner Schneeschuhe schwebe ich über den tiefen Schnee, doch manchmal breche ich hüfttief ein und kann mich nur mit größter Mühe aus den Schneemassen befreien. Es ist ein unwirtlicher Ort und mit jedem Höhenmeter nimmt die Rauheit zu. Ab dem 1000. Höhenmeter weicht der seichte Schneeboden nun dem puren Eis. Die spitzen Haken meiner Schneeschuhe bohren sich tief in die gefrorene Oberfläche und sichern mir einen guten Stand. Die Kälte macht mich müde. Obwohl es nur kurze Strecken sind, die wir bewältigen, verlangt diese Tour alles von uns ab. Erschöpft stütze ich mich auf meine Wanderstöcke ab und mustere mit gesenktem Kopf die Umgebung. Plötzlich sehe ich im Schneegestöber die Silhouette eines riesigen Steins, der sich langsam durch die eisige Wüste bewegt. In meinem Blickfeld verschmelzen Boden und Horizont. Ich fühle mich wie in einer Leere, in einem unendlich großen Raum, in dem mir nur dieser dunkle Schatten eine Orientierung gibt. Ich bin sprachlos und stehe da wie angewurzelt. Wir sind mitten in eine Moschusochsenherde geraten.

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Die Urzeit-Kolosse sind näher, als uns lieb ist. Wenige Meter entfernt stehen mindestens sechs von ihnen direkt vor unserer Nase. Regungslos stehen wir da und versuchen die Herde an unsere Anwesenheit zu gewöhnen. Die gelangweilten Blicke der Moschusochsen versichern uns, dass sie nicht überrascht sind und uns nicht als Bedrohung ansehen. Nach einem längerem Blickkontakt kratzen sie unbekümmert und cool mit ihren scharfen Hufen den eisigen Boden auf, um dort weiter nach Nahrung zu suchen. Sie lassen sich von uns nicht beirren. Trotzdem sind wir verunsichert und bewegen uns Schritt für Schritt, respektvoll und ruhig, rückwärts, um langsam sicheren Abstand zu gewinnen. Durchschnaufen! Was war das für eine Begegnung? Wir liegen uns in den Armen, als wir realisieren, dass wir die Ochsen tatsächlich gefunden haben.

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AUF TUCHFÜHLUNG

Das Dovrefjell hat eine Fläche von über 1600 Quadratkilometern, womit schon unter normalen Bedingungen das Auffinden dieser Tiere zur berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen werden kann. Bezieht man die winterlichen Wetterbedingungen mit ein, die eine geringe Sicht mit viel Wind und arktischer Kälte zur Folge haben, dann grenzt diese Begegnung schon fast an ein Wunder. Mir war vor dieser Tour klar, dass die Wahrscheinlichkeit die Tiere im Winter aufzufinden sehr gering ist. Umso größer ist nun meine Freude diese Riesen tatsächlich in ihrer natürlichen Umgebung zu erleben.

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Ich liege auf dem Boden, der Wind peitsch noch immer heftig um meinen Körper, während ich aufgeregt meine Kamera aus dem Rucksack krame. Um besser hantieren zu können, ziehe ich meine Fäustlinge aus, aber schon nach wenigen Sekunden entzieht sich jedes Gefühl aus meinen Fingern. Es ist eine menschenfeindliche Gegend. Auch meine Fußzehen fühlen sich durch die Kälte schwer und gepeinigt an. Mit meiner Kamera in der Hand robbe ich wieder etwas näher an die Moschusochsen heran und verschanze mich hinter einen Stein. Von hier aus bin ich geschützt und habe beste Sicht auf die Tiere, ohne sie dabei zu stören. Ich beobachte sie lange und oft habe ich sogar Schwierigkeiten die zahmen Kreaturen von den Steinen der Tundra zu unterscheiden. Harmonisch liegen einige der großen Brocken dicht aneinandergereiht auf dem kalten Boden. Manche scheinen zu schlafen und sogar ein kleines Kalb kann ich gut getarnt im Schnee entdecken. Mein Finger ruht am Auslöser meiner Kamera, als plötzlich sanfte Sonnenstrahlen den Schneedunst durchbrechen. Welch ein Anblick.

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Das struppige Fell der Ochsen schimmert jetzt am Sattel und an den Füßen hellbeige bis gelbbraun. Ganz deutlich kann ich jedes Detail der Bullen erkennen. Das buschige Fell ist mit Eis übersät und in ihren Augen reflektiert sich das Sonnenlicht. Ich kauere noch immer hinter dem Stein, beobachte weiter das Geschehen und fotografiere mich in einen Rausch. Auf einmal ist mein ganzer Körper warm, meine Hände und Füße fühlen sich an, als würde ich zuhause vor meinem Ofen sitzen. Oder habe ich schon jedes Gefühl in meinen Gliedmaßen verloren? Ich bin mir nicht sicher, aber ich weiß, dass die Tiere mich mit einem herzerwärmenden Gefühl überfluten. Ich habe die Kälte vergessen und bin gefesselt vom Anblick dieser kräftigen Wesen. Sie stapfen majestätisch durch den Schnee und knappern an den spärlichen Flechten, die im gefrorenen Boden verankert sind. Die Tiere trotzen mit ihrem massigen Fell dem harten norwegischen Winter. Mit ihnen in dieser subpolaren Region auf Tuchfühlung zu gehen, ist ein lebensveränderndes Erlebnis.

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KÄLTE

Die Tage am Rande des Polarkreises sind kurz und nach nicht einmal fünf Stunden Helligkeit verkriechen wir uns jeden Abend gegen vier Uhr nachmittags in die Zelte. Ein Hauch von Wärme beschert mir mein Gaskocher, als ich das Abendessen koche. Das Kondenswasser gefriert am Innenzelt. Mit zwei Schlafsäcken und vollständiger Kleidung liege ich im norwegischen Gefrierschrank. Draußen beruhigt sich der Wind ab und zu, so dass völlige Stille herrscht. Kerzen sorgen für ein warmes Ambiente mit Gemütlichkeit im Innenraum. Etwas heißes Wasser fülle ich mir in meine Trinkflasche, die ich als Wärmequelle in meinen Schlafsack stecke. Welch eine Wohltat, endlich wieder die Füße zu spüren.

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Ist es diese Strapaze wert? Ja, denn genau in diesem Augenblick kann ich mir nichts Besseres vorstellen. Für die meisten Menschen ist die Sehnsucht nach dem Süden im Winter sehr groß, dabei ist es gerade der Norden, der in der kalten Jahreszeit voller Magie steckt. Ich Blicke aus dem Giebel meines Zeltes und sehe das Firmament. Klarste Luft. Noch einmal raffe ich mich für einen kleinen Spaziergang auf, um den Himmel zu genießen, aber vor allem auch, um meinen Körper durch etwas Bewegung mit so viel Wärme wie möglich auf eine lange, frostige Nacht vorzubereiten. Der Abendstern funkelt am Himmel und die Milchstraße erscheint in voller Pracht. Ganz ohne Lichtverschmutzung kann ich an diesem Ort, in absoluter Dunkelheit, um ein Vielfaches mehr Sterne zählen als irgendwo anders. Faszinierend schaue ich auf die Zelte, welche durch den Kerzenschein im Schnee illuminieren. Ich blicke in die Dunkelheit und denke demütig an die Moschusochsen, die jetzt dort irgendwo bei zweistelligen Minustemperaturen ohne weiches Bett schlafen. Sie benötigen keinen Daunenschlafsack, sie haben ein dickes Winterfell. Rasch ziehe ich mich wieder in mein Zelt zurück und mummele mich tief und fest ein. Den Schlafsack ziehe ich so weit zu, bis nur noch die Nasenspitze hinausschaut.

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Am nächsten Morgen ist jeder Gegenstand in meinem Zelt gefroren. Wichtige Dinge, die ich vor der Kälte schützen musste, hatte ich über Nacht in den Schlafsack gesteckt. Viel Platz war darin nicht mehr, trotzdem konnte ich bei den eisigen Temperaturen hervorragend nächtigen. Nach einem ausgiebigen Frühstück steige ich in mein gefrorenes Schuhwerk, um mich noch einmal auf die Suche nach den urgewaltigen Riesen der Eiszeit zu machen. Der Winter, das Dovrefjell und die Moschusochsen haben mich in ihren Bann gezogen.

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